Reform-Agenda: Wirtschaftsinteressen stehen über Sozialpolitik
Die Agenda 2010 wird als Meilenstein der ehem. rot-grünen Regierung aus dem Jahr 2003 empor gehoben. Doch die Maßnahmen scheinen nicht genug gewesen zu sein. Ökonomen fordern zum bisherigen Sozialabbau weitere Maßnahmen, die eine Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sicher stellen sollen.
Überblick
„Die Reform-Agenda 2010 darf nicht zum Stillstand kommen“

Die Wiege für Agenda 2010 wurde vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2003 gelegt. Zehn Jahre nach der Verkündung und drei Jahre nach dessen „Vollendung“ scheinen die Früchte dieser Maßnahmen besonders in den Krisenzeiten ihre Früchte zu tragen.
Reformen bei Hartz-IV, Abbau der Sozialleistungen und Absenkungen der Steuern haben die deutsche Wirtschaft auf einen Kurs gebracht, die sich heute als eine gegenüber den anderen Euro-Mitgliedsstaaten besondere Robustheit in Krisensituationen erwiesen hat. Die Politik feiert den Wachstumskurs Deutschlands trotz widriger Verhältnisse, nicht nur dank des eingetretenen „Job-Wunders“.
Die Reform-Agenda droht zu versickern
Das Lob führender Ökonomen hält sich jedoch in Grenzen. Auf der einen Seite preisen sie die wirtschaftlichen Erfolge durch den Sozialabbau, warnen jedoch auch davor, vom bisher beschrittenen Weg wieder abzukommen. Christoph Schmidt, Chef der Wirtschaftsweisen (Sachverständigenrats), erklärte der Welt am Sonntag, dass den Politikern das Bewusstsein einer notwendigen Fortsetzung des Kurses auch nach der Agenda 2010 immer mehr abhanden zu kommen scheint.
Schmidt kritisierte die in Deutschland geführten Debatten über Gerechtigkeit und Umverteilung, statt über Wettbewerbsfähigkeit zu reden. „Die Diskussion über Mindestlöhne zum Beispiel belegt, dass strengere Regulierungen eher auf der politischen Agenda stehen als Liberalisierungen“, so der Ökonom. Am Arbeitsmarkt wären bereits Elemente der Agenda entschärft worden. Auf Schröders massive Sparmaßnahmen folgten daraufhin auch in der Sozialpolitik „etliche neue Wohltaten, etwa in der Pflege- oder Rentenversicherung“, kritisierte Schmidt weiter.
Die SPD und die Grünen setzten einst die Absenkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent durch und schafften gleichzeitig die Vermögensteuer ab. Und nun, nachdem „der Fiskus die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der Bundesrepublik meldet“, zögen SPD und Grünen mit der Forderung nach deutlichen Steuererhöhungen in den Wahlkampf ein, so Welt am Sonntag.
„Die Agenda 2010 müsse fortgesetzt werden
Deutschland würde sich nun auf seinem wirtschaftlichen Erfolg ausruhen und dies wäre „brandgefährlich“, erklärte Klaus Zimmermann vom Institut der Zukunft der Arbeit (IZA) dem Blatt und sieht die bisherigen Errungenschaften in „spätestens fünf Jahren vor die Füße fallen, wenn das demographische Chaos ausbricht“. Die Agenda-Reformen müssen eine Fortsetzung finden, forderten die Ökonomen.
Inzwischen griff auch Sachverständigenrat Schmidt das Thema Rentenalter auf und erklärte, dass mit der Rente mit 67 Jahren noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht sei. Letzte Woche erklärte auch das Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass ein Renteneintrittsalter mit 69 Jahren nicht zu vermeiden sei. Zimmermann vom IZA nannte die Rente mit 70 als unabdingbar und sieht auch im Pflege- und Gesundheitssystem viel Handlungsbedarf.
Lt. der bisher noch unveröffentlichten Studie des IZA, wären die bisherigen Maßnahmen wie die starken Kürzungen der Unterstützung für Langzeitarbeitslose und die Deregulierung maßgeblich für den Abbau der Massenarbeitslosigkeit verantwortlich, so Welt am Sonntag. Die deutsche Arbeitsmarktreform soll derart wirksam gewesen sein, dass sie nun als eine Vorlage für die krisengeplagten Euro-Länder dienen solle.
Agenda: Zum Wohle der Wirtschaft und Großbesitzern
Agenda 2010 brachten den Konzernen erhebliche Entlastungen ein, die allerdings ausnahmslos zulasten der Arbeitnehmer gingen. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen enthalten längst nicht alle tatsächlichen Erwerbslosen, und blenden für die Erhebung der Statistiken ganze Randgruppen vollständig aus. Darüber hinaus gab es innerhalb der letzten 10 Jahre einen enormen Schub, der die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinander getrieben hatte.
Die Armut in Deutschland steigt prägnant an, während die teils riesigen Vermögen nur Weniger noch weiter ausgebaut werden. Die Entwicklung ist inzwischen schon so weit fortgeschritten, dass lt. dem Armutsbericht (1. Fassung) nur rund 10% der Bevölkerung im Jahr 2008 mehr als die Hälfte (53%) des deutschen Privatvermögens (rund 10 Billionen Euro) besaßen. Im Jahr 1998 waren es lediglich 45% des Gesamtvermögens. Lediglich 1% des gesamten Vermögens (netto) in Deutschland bleibt für die ärmere Hälfte aller Haushalte übrig.
Eine Absenkung des Spitzensteuersatzes sowie die Abschaffung der Vermögenssteuer hatten in der Tat einschneidende Auswirkungen. Den Mindereinnahmen stehen seit Agenda 2010 die Minderausgaben für Sozialleistungen gegenüber. Eine Verschiebung der Reichtums-Verhältnisse zugunsten der „Industriellen“ wurde vorprogrammiert.
Rekorde in den Beschäftigungszahlen sind die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite beschreibt die Niedriglöhner, die heute bereits am Rande des Existenzminimums ihre „flexibel gestalteten“ Arbeitsplätze aufsuchen dürfen. Mit dem Eintritt in das Rentenalter ist deren bittere Armut bereits besiegelt. Agenda 2010 dürfte allenfalls ein temporäres Aufleuchten der deutschen Wirtschaft bewirkt haben und verschob gleichzeitig den sicher kommenden Überlebenskampf vieler Bürgers auf die nächste Regierungsgeneration.